CDU: Orientierungsverlus der bürgerlichen Mitte


Das Führungsvakuum und der Richtungsstreit in der CDU spiegelt den Rollenverlust des alten Bürgertums wider

Wahre Krisen bemerkt man manchmal erst, wenn es fast zu spät ist. Das ist beim Klimawandel so und auch in der tiefen politischen Krise infolge der Ereignisse in Thüringen. Denn jetzt ist es nicht mehr nur die schon lange um ihre Existenz bangende SPD, die verzweifelt nach Kurs und Führung sucht. Mit einem Mal hat es auch die bürgerliche Volkspartei schlechthin erwischt, die CDU.

Jahrzehntelang hat sie das Land regiert in guten wie in schwierigen Zeiten. Aber nun weiß diese stets so selbstsichere CDU nicht mehr, ob sie in einem kleinen Ost-Bundesland einem sozialdemokratischen Linken wie Bodo Ramelow wieder ins Amt verhelfen sollte oder einem FDP-Mann von Gnaden des Faschisten Björn Höcke. Links- und rechtsextrem – beides »gleich schlimm«? Allein dass die CDU in einer völlig veränderten Parteienlandschaft und trotz ihres eigenen Bedeutungsverlustes noch immer an diesem aus dem Kalten Krieg stammenden Weltbild der Äquidistanz festhält, zeigt, dass die Christdemokraten ihren geistigen und moralischen Halt verloren haben.

Und nicht nur die gesamte Parteiführung hat versagt, genauso wie die der FDP. Der bürgerlichen Mitte, welche die Union so lange repräsentierte, ist, so scheint es, in erheblichen Teilen der Kompass abhanden gekommen. Paktieren mit einer Partei, die an die schlimmste Epoche deutscher Geschichte anknüpft, um trotz eigener Wahlniederlage die Wiederwahl eines »Roten« zu verhindern: Das fand und findet nicht nur Sympathie in der Ost-CDU, sondern auch in einem verstockten CDU-Westmilieu, das in der Kohl-Zeit noch das Sagen hatte und von dem ein nennenswerter Teil schon zur AfD übergelaufen ist. Beim Wähler allerdings nicht: Die CDU ist gerade bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg abgewatscht worden, und auch in Thüringen ist sie in den Umfragen deutlich gefallen. Der Wähler scheint ein besseres Gespür dafür zu haben, wohin man sich klar abgrenzt und was demokratisch noch geht.

Die Desorientierung reicht aber viel weiter. In ihr äußert sich die Angst des alten bundesrepublikanischen Bürgertums, zerdrückt zu werden zwischen einer neuen »grün-hedonistischen« Führungsschicht und der neu-alten Rechten. Im Osten hat sich ein liberal-bürgerliches Zentrum seit der Wende im größeren Umfange gar nicht erst wieder ausgebildet. Die Unsicherheit betrifft so gut wie alle Zukunftsfragen: Soll die vom Aussterben bedrohte alte Industrie erhalten oder der Aufbruch in eine nachhaltige, klimaneutrale digitale Wirtschaft gewagt werden? Was tun gegen den Vormarsch der Nationalisten, Fremdenhasser und Autokraten? Soll, kann das Land sich abschotten gegen die wachsende Zahl von Migranten und die Unbilden der Globalisierung? Oder will es so weltoffen und tolerant bleiben, wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat? Und wie dennoch den sozialen Zusammenhalt einer fragmentierten, alternden Einwanderungsgesellschaft wahren?

Das Bewahrenswerte bewahren, indem es in Neuem aufgehoben wird: Das war lange das Erfolgsgeheimnis der Union und damit des Landes. Wenn die CDU ihre Führungsrolle nicht auf Dauer an die Grünen verlieren will, müssten sie und das von ihr noch immer vertretene bürgerliche Milieu von ihnen lernen, ohne sie zu umarmen: Nicht auf Koalitionen und Machterhalt schielen, sondern sich zu allererst auf die eigenen Werte und Ziele besinnen. Was heißt liberal-konservativ heute in einer veränderten Welt und Gesellschaft? Wie kann die soziale Marktwirtschaft, ihr Markenkern, ökologisch modernisiert werden? Wie den Ängsten vieler Bürger vor sozialem Abstieg und Bedeutungsverlust begegnen und dem Gefühl von Heimatlosigkeit? Wie Sicherheit und äußeren wie inneren Frieden gewährleisten trotz aller Gefahren, die sich gerade in Hanau wieder gezeigt haben?

Auf all diese Fragen muss die CDU überzeugende Antworten finden. Und dann eine neue Führungsperson, die überzeugend dafür steht. Lernen könnte sie von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder. Er hat die CSU, nachdem auch sie sich 2018 vor der Landtagswahl verirrt hatte, wieder gefestigt und ökologisch geöffnet. Und wirkt in der irrlichternden Union jetzt – welch eine Ironie – wie ein Fels in der Brandung.

Vor gut zwanzig Jahren, nach der Spendenaffäre und der Abwahl von Helmut Kohl, schien die CDU schon einmal dem Untergang geweiht. Bis Angela Merkel kam. Wenn die Partei nicht bald die Kurve kriegt, könnte es diesmal zu spät sein.

(Essay in Publik Forum 04/20)